Die Krone des Schlangenkönigs - Zusatzkapitel


Abschied (Kapitel 5 aus Felix‘ Sicht)


Merle war abgehauen, einfach weg - und er hatte es ihr nicht ausreden können.

Klar, sie kannten sich seit gerade mal zweiunddreißig Stunden, aber Felix hatte trotzdem geglaubt, dass der aufgeweckte Blondschopf ihn vielleicht mochte. Das Zusammensitzen im Bus, der gemeinsam verbrachte Nachmittag, an dem sie für die Schule gelernt und im Anschluss die Schanze erkundet hatten: All das hatte Felix das Gefühl gegeben, endlich einen Freund gefunden zu haben. Plötzlich kam ihm der Gedanke naiv vor. So schnell wurden keine Freundschaften geschlossen, zumindest nicht im wirklichen Leben. In Büchern klappte das vielleicht.

Felix schüttelte über sich selbst den Kopf.

Ob Merle schon unterwegs zum Bus war? Unruhig schaute er zum Fenster. Selbst das Dorf schien den Atem angehalten zu haben. Kein Hundegebell oder das Dröhnen eines Autos, das über die Kopfsteinpflasterstraße fuhr. Auch auf dem Gehweg war niemand zu sehen. Er hätte bemerkt, wenn Merle an seinem Zuhause vorbei zur Bushaltestelle gegangen wäre, oder? Sollte er sie verpasst haben? Oder hatte sie sich umentschieden und die ganze, verrückte Aktion abgeblasen?

Felix hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als sich draußen auf dem Gehweg etwas bewegte. Ein dunkelblonder Haarschopf kam näher.

Die Größe passt. Bitte lass es nicht Merle sein!

Natürlich war sie es. Ein Teil von ihm hatte gespürt, dass sie es ernst meinte mit ihrer Flucht von zu Hause. Mist.

Sie blickte zu ihm auf, kaum dass sie sein Haus erreichte. Ihre Blicke trafen sich zum stummen Abschied.

Sie zieht das wirklich durch. Ich werde Merle nicht wiedersehen.

Befürchtung wurde zu Gewissheit und versetzte sein Herz in freien Fall, bis es als schwerer Klumpen in seinem Magen liegenblieb. Trotzdem zwang Felix sich zu einem Lächeln. Er winkte ihr sogar zum Abschied zu. Sie sollte nicht sehen, wie traurig ihn ihre Abreise machte. Tatsächlich lag etwas Entschuldigendes in ihrem Blick. So, als wüsste sie, wie sehr er sie vermissen würde. Aber wie sollte sie? Sie kannten sich ja kaum. Er hatte kein Recht, sie hierzubehalten. Merle war unglücklich hier, schon vor dem Streit mit Adrian. Das konnte er an der Art sehen, wie sie ihr Umfeld mit skeptisch gerunzelter Stirn musterte. Wenn sie in Frankfurt glücklicher war ...

Schweren Herzens sah er ihr dabei zu, wie sie den Gehweg entlang in Richtung Bushaltestelle lief. Zehn Sekunden, zwanzig, dann riss er sich los und setzte sich stattdessen vor den PC. Er musste sich ablenken, auf andere Gedanken kommen. Minecraft half da eigentlich immer.

In ein paar Tagen hab ich sie vergessen. Wir waren ja nicht mal richtige Freunde.

Wenn er die Worte oft genug wiederholte, glaubte er sie vielleicht.

Nach einer Weile gab Felix das Zocken auf. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Das ungute Gefühl in seinem Magen blubberte immer wieder hoch, wie Lava in einem Vulkan. Merle würde es heute nicht nach Frankfurt schaffen, so viel stand fest. Er hatte sie davor gewarnt, vergeblich. Nun würde der Sturkopf irgendwo auf einem Bahnhof übernachten, allein auf einer unbequemen Bank. Was, wenn ihr etwas passierte? Es war nicht unwahrscheinlich, dass man sie beklaute, oder dass sie krank wurde in der Kälte. In dieser Jahreszeit konnten die Nächte unangenehm kühl werden.

Verdammt. Warum hab ich ihr nicht angeboten, sie zu begleiten? Ich bin so ein Idiot.

Fluchend raufte Felix sich die Haare und warf einen Blick auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Mist.

Kurzentschlossen schnappte er sich seinen Rucksack und schmiss Portmonee, Handy und eine Packung Kekse hinein. Um mehr einzupacken, fehlte ihm die Zeit. Er musste sich beeilen, wenn er den Bus noch erwischen wollte. Ob Merle ihn überhaupt dabeihaben wollte? Er konnte es nur hoffen.

 

Merle war fort. Das Haltestellenhäuschen lag still und verlassen da und dabei sollte der Bus erst in fünf Minuten kommen. Trotzdem war seine Freundin weit und breit nirgendwo zu sehen. Wo war sie hin? Weit konnte sie nicht sein.

Ob sie wieder nach Hause gegangen ist? Nein. Dann wäre sie mir entgegengekommen. Sie wird doch nicht zu Fuß losgelaufen sein!

Felix überlegte kurz, dann sprintete er los. Die Landstraße führte lange nur geradeaus und war vom Ortsausgang aus bis auf wenige Hügel gut zu überschauen. Wenn sie dort entlang lief, würde er sie sehen. Fluchend raste er den Berg hinauf. Wenn er sie einholen wollte, musste er sich beeilen. Doch schon auf halber Strecke begann seine Lunge zu protestieren. Es war ewig her, dass er das letzte Mal Seitenstechen hatte, doch nun bohrte sich der Schmerz ich wie ein Messer in seine Rippen. Es nützte nichts. Er musste Merle einholen. Also biss er die Zähn zusammen. Nur war sie auf der Landstraße nirgendwo zu sehen.

Das gibt’s doch nicht. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Wo steckt sie bloß?

Ratlos blickte er sich zu allen Seiten um. War sie vielleicht zufällig gerade hinter einer der Hügelkuppen verschwunden? Oder hatte sie sich beeilt und es schon bis ins nächste Dorf geschafft? Sie war doch nicht etwa zu jemandem ins Auto gestiegen!

Unwahrscheinlich. Sie kennt hier ja niemanden. Ganz ausschließen kann ich es aber nicht. Mist. Zu viele Möglichkeiten. Und da unten kommt der Bus!

Fluchend rannte Felix los, zurück den Berg hinab. Doch die Haltestelle war zu weit weg. Gerade als sie in Sichtweite kam, schloss der Bus die Türen und setzte sich in Bewegung. Zurück blieben nur die Leute, die soeben ausgestiegen waren. Die meisten waren Schulkinder, wie unschwer an den Ranzen zu erkennen war.

Felix‘ Magen krampfte sich vor Sorge zusammen. Er hatte Merle verpasst und sie war jetzt sonst wo, ohne einen Freund an ihrer Seite.

Plötzlich blieb sein Blick an einem blonden Haarschopf hängen. War das da vorne Adrian? Die Haarfarbe und die Tasche passten, genauso die Richtung, in welche der Junge davonzog.

Er ist es. Er muss es sein.

Mit einem Gefühl der Hoffnung setzte Felix sich in Bewegung. Vielleicht gab es noch Hoffnung. Er mochte Merle verpasst haben, aber das hieß nicht, dass er schon aufgab. Seine Freundin war in Gefahr, auch wenn sie das vielleicht nicht einsehen wollte. Soweit er wusste, hatte der Streit mit Adrian sie zur Flucht nach Frankfurt getrieben. Wenn er ihn überreden konnte, ihr hinterherzufahren ...

"Adrian! Adrian, he! Warte mal," keuchte Felix. Sein Körper gierte nach Sauerstoff, nachdem er ihn zu lange über seine Grenzen hinaus angetrieben hatte. Zu seiner Erleichterung hörte Adrian ihn trotzdem.

"Kurzer. Was gibt’s?" Stechend blaue Augen musterten ihn voll Skepsis. Sie redeten nur selten, doch im Gegensatz zu den anderen Jungs war Adrian Kral wenigstens nicht gemein zu ihm. Das ließ Felix hoffen, dass er ihm zuhören würde.

"Deine Schwester ..." Japsend lief Felix neben dem Blondschopf her, dankbar dafür, dass dieser es nicht eilig hatte. Besser er redete nicht lange um den heißen Brei herum. "Merle ... sie ..."

"Was ist mir ihr?" Merles Bruder musterte ihn mir gerunzelter Stirn. "Hat sie sich bei dir über mich ausgeheult, oder –"

Felix schüttelte den Kopf. "Sie ist weg. Abgehauen", stieß er aus und hielt sich die stechende Seite. "...will ... zurück ... nach Frankfurt."

"Was?" Adrian blieb stehen und starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. "Das ... Bitte sag, dass du grad versuchst, mich auf den Arm zu nehmen."

Felix nahm einen tiefen Atemzug, bevor er so ruhig wie möglich weitersprach. Sein Herz wummerte noch immer wie wild gegen seinen Brustkorb. Das würde vermutlich noch eine ganze Weile so bleiben. "Ich wünschte, es wäre so. Sie hat es mir auf dem Heimweg erzählt. Vorhin hab ich sie zur Bushaltestelle laufen gesehen. Als ich dort ankam, war sie schon weg."

Der Andere schloss für einen Moment sie Augen und holte tief Luft. Es war schwer zu sagen, was in diesem Moment in ihm vorging. Egal war ihm das Verschwinden seiner Schwester aber nicht. "Diese ... arrrgh! Ich muss ihr nach, ich ..." Sein Blick schweifte zurück zur Bushaltestelle, bevor er rastlos zwischen den Häusern hin und her huschte.

Felix blickte auf die Uhr. "Der nächste Bus fährt in knapp einer Stunde. Wenn wir damit am Bahnhof ankommen, ist ihr Zug vermutlich schon weg."

"Nicht wir, ich. Du bleibst hier. Ich muss das allein mit Merle klären. Immerhin ..." Er brach ab, doch Felix wusste genau, was er sagen wollte.

"Wenn du meinst ..."

"Meine ich. Keine Sorge, ich bringe sie zurück. Aber erstmal muss ich sie finden," sagte Adrian entschlossen. "Ich muss nach Hause, ein paar Sachen holen und mich umschauen. Auf dem Weg dorthin erzählst du mir alles, was Merle gesagt hat", forderte er, bevor er sich ohne eine Antwort abzuwarten wieder in Bewegung setzte.

Felix blickte ihm ratlos hinterher. Einerseits wollte er, dass Kral seine Schwester wieder nach Hause holte. Andererseits fühlte es sich falsch an, Merle auf diese Weise zu verraten.

Das hätte ich mir früher überlegen müssen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

"Felix?" Adrian war ein paar Schritte gegangen, bevor er merkte, dass er ihm nicht folgte. "Kommst du?"

Er zögerte nur kurz, dann setzte er sich in Bewegung. Wenn er schon nicht selbst nach Merle suchen konnte, dann ging er besser auf Nummer sicher, dass ihr Bruder sie fand. Merle würde ihn vermutlich dafür hassen. Aber Hauptsache es ging ihr gut.





´´